Das neue Jahrbuch MENNONITICA HELVETICA 46 (2023)

“Pius Joachim”. Unbekannter bayrischer Meister. Im Auftrag des späteren Täufers Balthasar Hubmaier 1512 umgedeutet als Grossvater Jesu. (Kunstmuseum Basel, Inv. 469)

In Kürze wird Ihnen das neue Jahrbuch MENNONITICA HELVETICA 46 (2023) zugestellt werden. Damit Sie sich schon jetzt auf dessen Lektüre freuen können, geben wir Ihnen schon heute einen Überblick über das, was Sie darin erwartet!

Zum einen enthält das Jahrbuch

eine Reihe von ABHANDLUNGEN / ÉTUDES:

  • Martin ROTHKEGEL  Der Basler «Pius Joachim»: Ein privates Andachtsbild aus dem Besitz Balthasar Hubmaiers (16. August 1485 – 10. März 1528)
  • Christine CHRIST – VON WEDEL   Katharina von Zimmern – Die ehemalige Äbtissin als Zaungast der Konflikte im reformierten Zürich
  • Christine CHRIST – VON WEDEL    Das frühe Basler Täufertum
  • Hanspeter JECKER   Eine täuferische Basler Bittschrift von 1589
  • Fanny SICHEL / Werner TRAMAUX     Une jeunesse suisse – Trouver un foyer
  • Jean-Pierre GERBER    Jan Pieter Terwey (1883–1965) und die Collection Maeder & Studer (1986)
  • Hanspeter JECKER   50 Jahre Schweizerischer Verein für Täufergeschichte (1973–2023)

Zum andern einige aktuelle Buchbesprechungen, ein Nachruf, der Jahresbericht und aktuelle Adressen.

 

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Mitglieder-Versammlung 2023 in Bern am 2. September 2023

Tages-Programm

09.30                  Ankunft und Begrüssungskaffee

10.00 – 11.00     Mitgliederversammlung gemäss Traktandenliste

11.10 – 11.50     Vortrag «50 Jahre Schweiz. Verein für Täufergeschichte»                                                           (Hanspeter Jecker)

12.00 – 13.15     Aethiopisch-eritreisches Mittagessen im Träffer

13.20                 Abfahrt per ÖV zum Staatsarchiv Bern (Falkenplatz 4)

14.00 – 16.00  Besuch & Führung durch das Staatsarchiv (in 2 Gruppen)

 

Traktandenliste des geschäftlichen Teils

  1. Begrüssung und Einleitung
  2. Protokoll der Mitgliederversammlung 2022
  3. Finanzen (Kassenbericht; Kassen- und Revisorenbericht)
  4. Publikationen: a) Bericht der Redaktion PRINT                                                                               b) Bericht der Redaktionskommission WEB
  5. Jahresbericht
  6. Wahlen Rechnungs-RevisorInnen
  7. Verschiedenes
  8. Nächste MV: Termin / Ort
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Die täuferischen Migrationslisten von 1672 in Pfalz und Kraichgau

Doppelseite aus der Güterbedarfsliste von 1672 (Statsarchief Amsterdam, 565 A 1196)

Die grosse Fluchtbewegung von Täuferinnen und Täufern aus der Schweiz in die Pfalz und in den Kraichgau vor 350 Jahren war ein sehr einschneidendes Ereignis.

Über 700 jüngere und ältere Personen verliessen fluchtartig ihre Heimat, oft mit kaum mehr, als was sie auf dem Leibe hatten und was sie zu tragen vermochten. In der Pfalz und im Kraichgau kamen sie vorerst bei den dort schon lebenden Mennonitenfamilien unter. Aber bald schon war klar, dass die Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge die Kräfte der ansässigen Täuferinnen und Täufer bei weitem überstieg.

Zu Hilfe kamen den ansässigen mennonitischen Haushalten in der Pfalz und im Kraichgau die niederländischen Doopsgezinden. Die Dokumente, die im Rahmen dieses umfassenden Hilfswerkes entstanden, sind zwar bekannt und neuerdings auch in grossen Teilen publiziert. Aber für die Forschung waren sie bisher nur bedingt aussagekräftig. Zum einen, weil die notierten Namen der Flüchtlinge oft nicht mit den in der Schweiz bekannten übereinstimmten. Zum andern aber auch, weil darin nichts über die Herkunft und nichts über die Vorgeschichte der einzelnen Flüchtlinge gesagt wird.

Diese Lücke schliesst ein längerer Beitrag in der neuesten Ausgabe von Mennonitica Helvetica, dem Jahrbuch des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte. Hanspeter Jecker zeichnet für (fast) jede einzelne der genannten und an der Migration beteiligte Person nach, woher sie kommt, mit wem sie verheiratet ist, und welche Vorgeschichte sie mitbringt. Damit gelingt es ihm, deutlich mehr Licht in ein Kapitel der täuferischen Migrationsgeschichte zu bringen, das bisher leider noch allzusehr im Dunkeln gelegen hat.

(Hanspeter Jecker, Die täuferischen Migrationslisten von 1672, in: Mennonitica Helvetica 45 (2022), 44-94.)

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Transformation durch Provokation?!

Was passiert, wenn wir 2022 mit einer grossen Bibel, geschmückt mit Blumen, durch die St. Alban Vorstadt ziehen und dabei das kund tun, was uns bewegt? Wir werden es erleben. Unser ökumenischer Gedenkspaziergang an Fronleichnam, 16. Juni, ist bei der Stadt Basel als Demonstrationszug angemeldet.

«Das ist das rächt heylthumm, das ander werind thoten bein!» Der Leutpriester Wilhelm Reublin an der Fronleichnams-Prozession vor der Albankirche. (Unbekannter Künstler, Privatbesitz)

Vor genau 500 Jahren jedenfalls provozierte genau das, und zwar ungeheuer. An Fronleichnam zog Leutpriester Wilhelm Reublin nicht mit der Monstranz, sondern mit einer Bibel durch die St. Alban Vorstadt. Ein Skandal.

Leutpriester Reublin hatte schon am prominent besetzten Fastenbrechen im Klybeck-Schlössli wenige Wochen zuvor mit geschmaust. Das ging als Basler Spanferkelessen in die Geschichte ein. Wegen des Fronleichnam-Skandals wurde er dann aus Basel ausgewiesen. Ein Protestzug seiner Anhängerinnen und Anhänger vors Basler Rathaus verhinderte das nicht.

Auch nachher wirkte Reublin an der Reformation mit, aber: Sie verlief ihm nicht konsequent genug. Wohl als erster Theologe damals ging er bereits 1523 die Priesterehe ein. Das wurde zum reformatorischen Akt und kann bis heute den Bruch mit Rom bedeuten. Reublin wurde schliesslich Täufer, weil er die Kindertaufe als unbiblisch ablehnte. Schliesslich kam er nach Zollikon, um dort 1525 die erste Täufergemeinde mitzugründen.

So gingen damals die Wege von Katholiken, Reformierten und Täufern auseinander. Heute gehen wir den Weg gemeinsam und kommen über Transformation von Kirche und Gesellschaft ins Gespräch.

Wie viel Provokation müssen wir uns erlauben, um als Christinnen und Christen noch gehört zu werden? Wie viel Provokation braucht es im Innern unserer Kirchen, damit sie sich weiter reformieren? Darüber wollen wir an Fronleichnam ökumenisch «disputieren».

 

Ökumenischer Fronleichnams-Spaziergang, Donnerstag, 16. Juni 2022.

Start: St. Alban Kirche, 17:15 Uhr.

Der historische Spaziergang führt vorbei an der Papiermühle und dem Pfarrhaus am Mühlenberg 12 bis zum Bischofshof, Rittergasse 1. Dort in der Hofstube halten wir ab 19:00 Uhr eine «Disputation» ab, mit anschliessendem Apéro.

Impulse auf dem Weg geben Täuferhistoriker Dr. Hanspeter Jecker vom Schweizerischen Verein für Täufergeschichte und die römisch-katholische Theologin Veronika Jehle. Am Pfarrhaus Wilhelm Reublins empfängt der heutige Hausherr, der reformierte Kirchenratspräsident Pfr. Prof. Lukas Kundert. Den Spaziergang mit Bibel und das anschliessende Podium zur Frage, wie viel Provokation wir heute zur Gestaltung von Kirche und Gesellschaft brauchen können, moderiert die Radiotheologin Judith Wipfler. Mit diskutieren wird auch der christkatholische Pfr. Prof. Michael Bangert.

Eine gemeinsame Veranstaltung des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte (www.mennonitica.ch) und der Evangelisch-Reformierten Kirche Basel-Stadt (www.erk-bs.ch).

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Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025

Das neue Themenheft 2022 ist erschienen: «Konsequent leben»

Mit Riesenschritten naht das Jahr 2025 und damit der Moment, wo es auf 500 Jahre Täufertum zurückzublicken gilt. Und auch wenn manche bisweilen vor lauter Jubiläen und Gedenkveranstaltungen mit immer lauterer Stimme anmahnen, darob die mindestens ebenso wichtigen «Tagesgeschäfte» in Kirche und Welt nicht aus den Augen zu verlieren – 2025 wird noch weiter zu reden geben!

Anfangs März hat denn auch am Bildungszentrum Bienenberg in Liestal (Schweiz) eine Besprechung stattgefunden, wo Vertreter der Mennonitischen Weltkonferenz (MWC), der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) sowie des deutschen Mennonitischen Geschichts-Vereins (MGV) und des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte (SVTG) darüber ausgetauscht haben, was im Vorfeld dieses Gedenkjahres alles zu bedenken ist.

Gedankenaustausch-Runde zu 2025. V.l.n.r.: John D. Roth (MWC), Jürg Bräker (KMS), Hanspeter Jecker (SVTG), Astrid von Schlachta (DMGV)

Ebenfalls in diesen Tagen ist vom Verein «500 Jahre Täuferbewegung2025» das dritte Themenheft erschienen. Dieses Jahr mit dem Schwerpunkt «Konsequent leben».

Die Herausgeber formulieren dazu in ihrem Pressetext zum neuen Themenheft folgendes:

“Die Täuferinnen und Täufer der Reformationszeit waren davon überzeugt, dass die Botschaft des Evangeliums und die Verkündigung des nahen Reiches Gottes zu einer radikalen Erneuerung der Kirche und der Gesellschaft führen müssten.

Aufgrund der konsequenten Orientierung an der Botschaft Jesu entschieden sich viele für einen einfachen unangepassten Lebensstil und standen für die eigenen Überzeugungen gegen die Mehrheitsmeinung ein.

Gemäss den Weisungen der Bergpredigt lehnten sie den Eid ab und verweigerten den Kriegsdienst. Durch diese radikale Nachfolge gerieten sie in Konflikt mit den Gesellschaften, in denen sie lebten. In Zeiten, in denen es nur eine Wahrheit gab und das religiöse Bekenntnis vom Staat vorgegeben wurde, führte dieses nonkonforme Verhalten zu Verfolgung und auch Martyrium.

Herausforderungen für heute

Im Themenjahr «gewagt! konsequent leben» soll darüber nachgedacht werden, was es heute bedeutet, sich an Jesus und seinem Evangelium zu orientieren. Was bewirkt ein «unangepasstes» Lebenszeugnis persönlich und gesellschaftlich? Wo haben Christen heute aus ihrer Orientierung an Jesus Christus und seinem Evangelium in Wort und Tat Einspruch zu erheben?

Inwiefern können aber auch eine radikale Nachfolge und eine Verabsolutierung ethischer Normen zu Exklusivität und zur Verweigerung der Mitgestaltung der Gesellschaft führen? Woher bekommen Christen heute die Kraft für ein konsequentes Leben in der Bindung an Jesus?”

Näheres zum Inhalt und Bezug des neuen Heftes hier.

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Das Wurstessen im Hause Froschauer in Zürich von März 1522

In diesen Tagen jährt es sich zum 500. Mal: Anfang März 1522 wurde im Hause des Zürcher Buchdruckers Christoph Froschauer inmitten der vorösterlichen Fastenzeit verbotenerweise Wurst gegessen. Das allein wäre noch kein Skandal gewesen, zumal wohl schon seit je her – wenigstens im stillen Kämmerlein – viele Menschen sich nicht strikt an die Anweisungen der Kirche hielten.

Gedenktafel in einem Hinterhof in der Froschaugasse unweit der ehemaligen Froschauer-Druckerei (Foto HPJ)

Hier aber wurden die geltenden Gebote bewusst und in provozierender Weise gebrochen. Und zwar nicht von «irgendwem». Vielmehr war mit Ulrich Zwingli der führende Reformprediger zugegen, und mit ihm die «Crème de la crème» derjenigen Menschen, die sich damals in der Limmatstadt für eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft stark machten und dies nach den Massstäben der neu ins Zentrum der ethischen Entscheidungsfindung gerückten Bibel bewerkstelligen wollten.

Wurstessen im Zwinglifilm von Stefan Haupt (2019): Links am Tisch Ulrich Zwingli und Leo Jud, rechts am Tisch die späteren Täufer Konrad Grebel und Felix Mantz, in der Mitte der Buchdrucker Froschauer. (Foto: Copyright C-Films)

Im Nachhinein gilt jenes berühmt gewordene Wurstessen als eines der wichtigsten Symbole für den Auftakt der Reformation in Zürich. Noch waren hier Menschen einigermassen einträchtig zusammen, deren divergierende Ansichten darüber, wie rasch und wie umfassend die Erneuerung sein sollte, sie später zu vehementen Gegnern werden liessen. Noch assen und sassen sie miteinander am selben Tisch, die später zu den Pionieren und Mitbegründern evangelisch-reformierter und täuferisch-mennonitischer Kirchgemeinden werden sollten. (Zur obigen Foto aus dem Zwinglifilm vgl. auch diese Anmerkungen)

Aus Anlass dieses Wurstessens vor 500 Jahren finden nun am Wochenende des 5. und 6. März 2022 in Zürich zwei Gedenk-Veranstaltungen statt. Eine Ökumenische Tagung mit dem programmatischen Titel «Ein Fasten wie ich es liebe – Warum uns die Kirche nicht Wurst ist» am Samstag, und ein Ökumenischer Festgottesdienst im Grossmünster am Sonntag. (Fotos der beiden Veranstaltungen jetzt unter https://www.zhref.ch/)

Im Zentrum des gemeinsamen Nachdenkens soll aber nicht die Vergangenheit sein, sondern Gegenwart und Zukunft. Auf dem Einladungsflyer heisst es darum:

«Wenn ein simples Wurstessen eine Revolution auslösen kann, was könnte nicht alles passieren, wenn wir über uns gemeinsam als Reformierte, Katholische und Täufer Gedanken zur Zukunft von Kirche und Welt machen. Nicht das was uns damals trennte soll das Thema sein, sondern was wir heute für die gemeinsamen Aufgaben in der Welt mitbringen und teilen können.»

Gerade rechtzeitig zu den beiden Anlässen ist in diesen Tagen auch das neue Jahrbuch  Mennonitica Helvetica des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte erschienen.

Erneut bietet es reichhaltigen Stoff, um einerseits die vielfältige Geschichte von Täuferinnen und Täufern kennen zu lernen. Anderseits regt es an, über das nachzudenken, was aus dieser Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft gelernt werden könnte, um es – wie der erwähnte Flyer es formuliert – «heute für die gemeinsamen Aufgaben in der Welt mitbringen und teilen (zu) können». Und diese Aufgaben sind durch die Entwicklungen der letzten Tage und Wochen und Monate (Ukrainekrieg, Covid, Klimawandel etc.) bestimmt nicht kleiner und einfacher geworden…

Gerade auch die aktuelle Ausgabe von Mennonitica Helvetica nimmt dabei intensiven konkreten Bezug auf das Zürcher Täufertum, etwa in Urs B. Leus Beitrag «Der böβ Verfürer zů Edikon», einer spannenden biographischen Skizze des Zürcher Oberländer Täuferlehrers Hans Müller (1603–1663/66).

Von Hans Müller geschriebener Brief vom 24. Mai 1636 an den Zürcher Rat (StAZH, E I 7.5., Nr. 133).

In einem anderen Beitrag wird der Zürcher «Historienmaler» Georg Ludwig Vogel (1788–1879) und seine «Wiedertäufer»-Zeichnungen von 1826 vorgestellt. Der Autor Heinrich Thommen fragt dabei nach möglichen Motiven und Hintergründen, die einen bekannten Zürcher Künstler bewogen haben könnten, die abgeschieden im Jura lebenden Täufergemeinschaften zu besuchen. Weitere Artikel setzen sich mit Themen auseinander, die noch stärkeren Bezug zur Gegenwart haben, etwa mit der Frage, wie alte Täuferlieder musikalisch und künstlerisch für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden können (durch Vital Gerber). Oder es wird eine junge Täuferin portraitiert, deren diakonisch-missionarisches Engagement sie um 1900 mitten in den Armenier-Genozid im spätosmanischen Reich geraten lässt (durch Hanspeter Jecker).

Kurz: Wem die Täufergeschichte nicht Wurst ist, dem sei die Lektüre dieser neuen Ausgabe von Mennonitica Helvetica wärmstens empfohlen. Mit einer Mitgliedschaft im Schweizerischen Verein für Täufergeschichte sichert man/frau sich übrigens jedes Jahr für CHF 30 die Zustellung dieses Jahrbuches. Die Inhalte der bisherigen Nummern sind hier aufgelistet.

Anmeldungen zur Mitgliedschaft im Verein werden gern entgegen genommen unter diesem Link.

(Zum Wurstessen vgl. nun auch den SRF-Beitrag)

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Was den “Historienmaler” Ludwig Vogel mit dem jurassischen Chaluet und “The Voice” verbindet

Ludwig Vogel, «Peter Liechti im Tscheyboz im Münsterthal, Täuffer» (Ausschnitt) (Schweizerisches Nationalmuseum LM 28460).

 

Was bringt Georg Ludwig Vogel (1788-1879), einen zu seiner Zeit zunehmend bekannten Zürcher Historienmaler dazu, in den 1820er Jahren einigen abgelegen wohnenden Täuferfamilien im Berner Jura einen Besuch abzustatten und sie zu portraitieren? In der neuen, demnächst erscheinenden Ausgabe von Mennonitica Helvetica geht der Vogel-Spezialist Heinrich Thommen dieser Frage nach (: 76-115). Dabei gibt er einen Überblick über sämtliche bis heute bekannten “Wiedertäufer”-Zeichnungen Vogels, die bei diesen Besuchen entstanden sind.

Als Beispiel für Vogels Bleistiftskizzen ist oben Peter Liechti abgebildet, wohnhaft “im Tscheyboz im Münsterthal”. Gemeint ist damit des einsame Bergtal des Chaluet, das von Court auf den Binzberg führt, den kleinen Passübergang ins solothurnische Gänsbrunnen und Welschenrohr.

Im Chaluet befand sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine grössere Täufergemeinde, die danach allerdings aufgrund von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und wegen der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in der Schweiz durch Auswanderung nach Nordamerika fast all ihre Mitglieder verlor und von der Bildfläche verschwand. So befinden sich heute zahlreiche Nachkommen ehemaliger Chaluet-Täuferfamilien in Ohio, Indiana oder Ontario.

Und wer weiss, vielleicht ist der abgebildete “Peter Liechti” ja möglicherweise ein weit entfernter Verwandter der drei Liechty-Geschwister aus Ohio mit mennonitischen Wurzeln, die derzeit unter dem Namen “Girl named Tom” und als Gewinner der Gesangs-Casting-Show “The Voice” in den USA gross Furore machen… (Mehr über die allerdings sehr komplexen Verwandtschaftsverhältnisse der Liechti hier)

Mehr zum Inhalt der im Februar erscheinenden Ausgabe von Mennonitica Helvetica 44 (2021) befindet sich hier.

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WEGE ZUR FREIHEIT – Eine Ausstellung zur Täufergeschichte auf Schloss Trachselwald

Hinter dieser Tür am linken Bildrand und hinter diesen vergitterten Fenstern rechts davon im Schlosshof von Trachselwald erwartet die neue Ausstellung zur Täufergeschichte ab dem 5. September 2021 Besucherinnen und Besucher! (Foto HPJ)

In den vergangenen Monaten wurde mehrfach darauf hingewiesen und nun ist es demnächst so weit: Am 4. September wird im alten Gefängnistrakt von Schloss Trachselwald die neue Ausstellung zur Täufergeschichte «Wege zur Freiheit» eröffnet. Coronabedingt erfolgt die feierliche Eröffnung nur im kleinen Kreis. Aber ab dem 5. September ist die Ausstellung frei zugänglich für alle. Zwischen 8 Uhr und 18 Uhr sind die Türen geöffnet, der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. Die Ausstellung wurde in monatelanger Vorarbeit aufgebaut unter dem Patronat der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) sowie des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte (SVTG). In sieben Zellen und einem langen Korridor wird die Geschichte der Täuferbewegung in der Schweiz (mit einem Schwerpunkt auf dem Emmental) vorgestellt und zum Nachdenken über Leben und Glauben heute angeregt.

Der deutschsprachige Flyer kann HIER heruntergeladen werden.

Incarcérée au château de Trachselwald en raison de sa foi anabaptiste : Trini Bieri et ses trois petits garçons (Foto HPJ)

Exposition sur l’histoire de l’anabaptisme au château de Trachselwald

Il en a été question à plusieurs reprises ces derniers mois et le moment est bientôt venu : le 4 septembre, la nouvelle exposition sur l’histoire de l’anabaptisme, « Les chemins de la liberté », sera inaugurée dans l’ancienne aile de la prison du château de Trachselwald.

En raison de Corona, la cérémonie d’ouverture ne se déroulera que dans un petit cercle. Mais à partir du 5 septembre, l’exposition sera ouverte au public. Les portes seront ouvertes entre 8h et 18h, l’entrée est gratuite, les dons sont les bienvenus.

L’exposition a été construite au cours de mois de travaux préparatoires sous le patronage de la Conférence Mennonite Suisse (CMS) et de l’Association suisse pour l’histoire anabaptiste (Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte SVTG).

Dans sept cellules et un long couloir, l’histoire du mouvement anabaptiste en Suisse (avec un accent sur l’Emmental) est présentée et encourage la réflexion sur la vie et la foi aujourd’hui.

Le dépliant en français peut être téléchargé ici !

Studying the Bible together – a key Anabaptist principle

An English version of the flyer about the exhibition can be downloaded here !

 

 

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Wichtige Neuerungen im Schloss Trachselwald

Schloss Trachselwald mit seinem markanten Bergfried (Foto:hpj)

Schloss Trachselwald ist ein Symbol für die Ausweitung und Durchsetzung der bernischen Herrschaft im Emmental – notfalls auch gegen den Widerstand der Untertanen. Immer wieder wehrte sich die Bevölkerung auf dem Land gegen die Anordnungen der politischen und kirchlichen Obrigkeit aus der Stadt Bern.

Zentraler Ausdruck dieses Widerstandes der emmentalischen Untertanen war der Bauernkrieg von 1653 und das namentlich in der Landvogtei Trachselwald stark vertretene Täufertum. Schloss Trachselwald bildete dabei jahrhundertelang das Zentrum der bernischen Repression gegen jede Form von Ungehorsam und Nichtanpassung.

Aus diesem Grund ist Schloss Trachselwald, insbesondere der Bergfried mit seinen alten Gefängniszellen, seit langem ein wichtiger Gedenkort für das Täufertum und seine Geschichte. Reisegruppen aus dem In- und Ausland und auch aus Übersee besuchen den Ort gerne, um sich über täuferische Geschichte und Gegenwart zu informieren oder um über Glaubens- und Gewissensfreiheit nachzudenken.

Jetzt, wo die corona-bedingten Reise- und Besuchseinschränkungen allmählich gelockert werden, wird auch ein Besuch von Schloss Trachselwald wieder für manche Einzelpersonen und Gruppen eine Option. In diesem Zusammenhang gilt es auf zwei Neuerungen hinzuweisen.

Der markante Bergfried von Schloss Trachselwald (Foto hpj)

Erstens hat der Kanton Bern aus Sicherheitsgründen den Zugang zum Turm eingeschränkt. Seit August 2020 ist eine Besichtigung des Bergfrieds mit seinen Zellen nur in Begleitung einer lizenzierten Führungsperson möglich. Es dürfen sich maximal 20 Besucherinnen und Besucher gleichzeitig im Turm aufhalten. Für die Koordination der Führungen ist die Agentur Event & Tourismus AG Emmental zuständig. Führungen und Begleitungen können nun auch von einigen Personen aus den Gemeinden der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) angeboten werden, welche eine entsprechende Sicherheitsschulung erhalten haben. Nähere Informationen dazu finden sich auf der KMS-Website.

Zweitens arbeitet eine Arbeitsgruppe im Auftrag von KMS und dem Schweizerischem Verein für Täufergeschichte mit Hochdruck an einer täufergeschichtlichen Ausstellung, die im alten Zellentrakt auf Schloss Trachselwald am 4. September 2021 eröffnet werden soll.

Eingang zum alten Zellentrakt auf Schloss Trachselwald, wo am 4. September 2021 die Ausstellung eröffnet werden soll. (Foto hpj)

In den sieben alten Gefängniszellen soll diese Ausstellung einer breiteren Öffentlichkeit täuferisch-mennonitische Geschichte und Gegenwart näherbringen und Bezüge schaffen zu aktuellen Gesellschafts- und Lebensthemen. Nähere Informationen zu dieser Ausstellung werden auch auf unserer Website rechtzeitig aufgeschaltet.

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Marianna Gerber aus dem Berner Jura – “Gottes Engel der Barmherzigkeit” inmitten des Armenier-Genozids

Marianna Gerber (1858-1917) – “Mutter vieler Waisen” [Portrait aus M.A.Gerber “Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future”, Pasadena 1917]

Durch seine offizielle Anerkennung als Genozid hat US-Präsident Joe Biden den Völkermord an den Armeniern in diesen Tagen erneut ins Blickfeld einer breiteren Weltöffentlichkeit gestellt. Je nach Schätzung kamen dabei vor und während des Ersten Weltkrieges durch Massaker und auf Todesmärschen zwischen 300’000 und mehr als 1,5 Millionen meist christliche Armenierinnen und Armenier im damaligen Osmanischen Reich, dem Vorläufer der heutigen Türkei, ums Leben. Während die offizielle Türkei diese Ereignisse bis heute als «kriegsbedingte Massnahmen» bezeichnet, sieht die grosse Mehrheit der historischen Forschung es aufgrund zahlreicher Dokumente als erwiesen an, dass die osmanisch-türkische Regierung die systematische Vernichtung eines gesamten Volkes bewusst anvisiert hat. Damit stellt der Völkermord an den Armeniern nicht nur den ersten planmässigen Genozid des 20. Jahrhunderts dar – er diente den Nationalsozialisten kurz danach auch als Modell für den Holocaust der Juden.

Auch wenn der Armenier-Genozid bereits recht gut erforscht ist, so dürfen die Bemühungen, zu dokumentieren, was da geschehen ist, nie aufhören. Es gibt eine Pflicht zur Erinnerung. Es ist mit Paul Ricoeur die Pflicht, Geschundenen und Geschlagenen wenigstens durch Erinnerung noch etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und nur so darf zaghaft gehofft werden, dass Menschen sich durch die Konfrontation mit den Ereignissen der Vergangenheit so sensibilisieren lassen, dass sich solche schlimmen Vorkommnisse in Zukunft möglichst niemals wiederholen werden.

Für manche mag es überraschend sein zu vernehmen, dass auch seitens der schweizerischen Täufergeschichte wenigstens ein solcher Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Armenier-Genozids ganz direkt erfolgen könnte.

Gemeint sind damit Leben und Werk der auf dem Bauernhof Les Veaux bei Les Genevez (damals Berner Jura, heute Kanton Jura) aufgewachsenen Marianne Gerber (1858– 1917).1 Sie wurde am 30. Mai 1858 als Tochter des mennonitischen Ehepaars Christian und Elisabeth Gerber-Geiser geboren. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass aus dieser Familie noch eine zweite Tochter einen wichtigen Beitrag im Rahmen der internationalen Missionsarbeit leistete: Es ist ihre jüngere Schwester Marie (1869-1910), die zusammen mit ihrem Mann Rodolphe Petter (1865-1947) eine noch lange nachwirkende Tätigkeit unter den Cheyenne in Oklahoma ausübte.

Einträge der Geburten von Marianne Gerber und ihrer Schwester Maria (vertikal!) im Heimatrodel der Täuferfamilien von Langnau (StABE, KB Langnau 36, p.79).

Marianna liess sich im Alter von 16 Jahren in der mennonitischen Sonnenberg-Gemeinde zwar taufen, sprach im Rückblick aber von einer Zeit geistlicher Leere, die sie mit weltlichen Vergnügen übertünchte. Prägend wurde für sie der Durchbruch ihrer durch Glaubenszweifel zunehmend depressiv gewordenen Mutter zu einer frohen Glaubensgewissheit um die Mitte der 1870er Jahre. Im Alter von 20 Jahren machte sie dann im Rahmen der auch im Jura mehr und mehr um sich greifenden Heiligungsbewegung ebenfalls eine einschneidende Bekehrungserfahrung mit innerer und äusserer Heilung. Fortan war sie entschlossen, ihr Leben ganz “in den Dienst Jesu” zu stellen.2

Sie setzte es gegen den Widerstand ihres Vaters durch, dass in der Familie eine tägliche Andacht gehalten wurde. Sie organisierte in Nachbarschaft und Gemeinde eine Sonntagschule. Sie lud zu Jugendtreffen ein, besuchte Kranke und scheute sich auch nicht, in der Öffentlichkeit mit der Bibel in der Hand zum Glauben aufzurufen. Das rief die Ältesten ihrer Mennonitengemeinde auf den Plan. Irritiert von dieser “alle bisherigen Regeln ignorierenden jungen Schwester”, berieten die kirchlichen Vorgesetzten, was nun zu tun sei. Dabei fand jener Gemeindeleiter Zustimmung, der zur Gelassenheit riet, zumal es sich bei Marianna Gerbers Aktivismus wohl um ein Strohfeuer handle, das so rasch wieder verschwinden werde, wie es aufgetaucht sei. In diesem Punkt allerdings sollte sich dieser Gottesmann fundamental täuschen.

Marianna Gerber trat 1881 in das Berner Diakonissenhaus ein, wo sie sich zur Krankenschwester ausbilden liess. 1885 verliess sie das Heim allerdings bereits wieder, nachdem die Oberschwester zur Überzeugung gelangt war, sie habe einen zu unabhängigen und eigenwilligen Geist, der nicht in das Diakonissenheim passe. In den folgenden Jahren wirkte sie in Tramelan als “Stadtmissionarin”. In ihrer evangelistischen und sozial-diakonischen Tätigkeit zugunsten von Armen und Kranken erfuhr sie nach eigenen Angaben im Kreise von Gleichgesinnten auf besondere Weise die Ausgiessung des Heiligen Geistes. Diese äusserte sich bei ihr massgeblich in Sprachengebet und der Gabe der Krankenheilung. Diese Offenheit für pfingstlich-charismatische Akzente sollte zeitlebens ein charakteristisches Merkmal von Marianna Gerbers Wirken bleiben.

1889 lernte Marianna Gerber den auf dem Münsterberg bei Moutier geborenen und als Kind mit seinen Eltern nach Nordamerika ausgewanderten John A. Sprunger kennen. Dieser befand sich mit seiner Frau in der Schweiz im Rahmen eines mehrmonatigen pastoralen Besuchs, wo er Gemeinden besuchte, predigte und evangelisierte, und dabei auch für diakonische und missionarische Projekte nordamerikanischer Mennoniten warb. Marianna Gerber interessierte sich vor allem für dessen Vision eines Diakonissenwerkes in den USA. Sie reiste darum im Sommer 1891 nach New York, wo sie eine Missionsschule besuchte. Anschliessend half sie Sprunger 1892 bei der Ausbildung der ersten Gruppe von Diakonissen für die neue Missionsgesellschaft Light & Hope. Maria knüpfte auch Kontakte zu Dwight Moody und dessen Bibelinstitut in Chicago, und während der Weltausstellung 1893 wirkte sie in einem Team mit, welches Moody bei seinen Evangelisationen mit Wortbeiträgen und Gesang unterstützte.

Als 1894 in Cleveland (Ohio) das Light and Hope Diakonissen-Spitals eröffnet wurde, bekleidete sie das Amt einer “Hausmutter”. In jenen Jahren hörte sie erstmals von der Notlage der verfolgten Armenier im Osmanischen Reich. Zusammen mit ihrer Mitschwester Rose Lambert wurde ihr das Schicksal der zahlreichen Waisenkinder, deren Eltern im Rahmen der Armenier-Verfolgung von Handlangern des Osmanischen Reichs bereits umgebracht worden waren, zu einem Herzensanliegen.

Marianna Gerber (ca. 1896) [Photo Courtesy Max Haines]

Ob dieses Mitgefühl der beiden Frauen mit der Not der Armenier wohl durch ihre gemeinsamen Wurzeln in der ebenfalls Jahrhunderte lang verfolgten Täuferbewegung der Schweiz mitgeprägt war? Mariannas Vater jedenfalls war ein Gerber aus Langnau im Emmental, die Mutter eine Geiser aus Langenthal, Roses Mutter eine Gäumann aus Grosshöchstetten – alles Nachfahren von Menschen, die als religiöse Minderheit wegen ihres täuferischen Glaubens aus der bernischen Heimat vertrieben worden waren, weil die Obrigkeit ihr Territorium “täuferfrei” halten wollte… (Damit war die Täuferverfolgung in der Schweiz sicher kein Genozid, aber mit der Verfolgung der Armenier war ihr gemeinsam, dass eindeutig die obrigkeitliche Absicht bestand, eine ganze Glaubensgemeinschaft und religiöse Kultur auf dem eigenen Territorium zu eliminieren.)

Im November 1898 brachen die beiden Frauen in die Türkei auf und begannen ihre Arbeit in Hadjin (heute Saimbeyli), einer damals 30.000 Einwohner zählenden Stadt im Taurusgebirge. Die Not in der ganzen Region war – ein Jahr nach dem letzten Massaker – unbeschreiblich. Sie mieteten Häuser, in denen sie sich um 200 Waisenkinder kümmern konnten, und gaben Hunderten von hungernden Menschen zu essen. Rose Lambert verfasste später ein Buch über diese notvolle Zeit mit dem Titel «Hadjin, and the Armenian Massacres» (1911). Um sich ein Bild von der Lage der armenischen Bevölkerung zu machen, reiste Marianna oft von Dorf zu Dorf und ermutigte die Menschen mit evangelistischen Botschaften. Dank ihrer Gabe, Sprachen leicht zu erlernen, konnte sich Maria bald auch auf Türkisch verständigen. In Hadjin fand sie Wege, den vielen Witwen Arbeit zu verschaffen, damit diese für sich selbst sorgen konnten. Dies erfolgte im Rahmen der 1901 gegründeten United Orphanage and Mission Society. Unterstützung für das Waisenhaus gab es von Freunden in Europa und aus Nordamerika, speziell auch von mennonitischen Bekannten aus Deutschland und Russland. Auch im Wochenblatt «Zionspilger» der Schweizer Mennoniten erschienen Berichte von ihrer Arbeit.

“Wer vermag in Worte zu fassen, oder wo ist die Feder, die
in der Lage ist, das blutige Bild des armenischen Volkes zu zeigen? Die Macht der Sprache reicht nicht aus, um zu beschreiben, was geschehen ist, oder was immer noch geschieht?” (Marianna Gerber 1917).             Bild: Marianna Gerber umgeben von Waisenkindern bei Zinjidere  [Photo Courtesy Max Haines / https://gameo.org/index.php?title=Gerber,_Maria_A._(1858-1917)]

Nach fünf Jahren in Hadjin kehrte Marianna Gerber 1902 zur Erholung in die USA zurück, da ihr ihre Gesundheit zu schaffen machte. Als die sendende Missionsbehörde der Allgemeinen Konferenz der Mennoniten eingegliedert und umstrukturiert wurde, sah Marianna Gerber darin die Unabhängigkeit ihrer Arbeit gefährdet und kündete 1903 ihr Dienstverhältnis. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei im Jahr 1904 arbeitete Marianna mit Unterstützung ihres grossen, zunehmend überdenominationellen Freundeskreises sechs Monate lang in Konya (Iconium) und zog dann in die Nähe der Stadt Kayseri (Caesarea) in Kappadozien. Hier ermöglichte ihr ein Kreis von Freunden, innerhalb von zwei Jahren vier neue Häuser zu bauen, um 1908 in Zinjidere das Zion-Waisenhaus eröffnen zu können.

Grundsteinlegung für den Bau des Zion-Waisenhauses in Zinjidere 1906. Marianna Gerber vorne unten rechts (Foto aus M.A.Gerber “Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future”, Pasadena 1917)

Eine erneute Erkrankung und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwangen Marianna Gerber 1914 zur Rückreise in die USA, noch bevor der Völkermord an den Armeniern seine volle Wucht entfaltete. 1917 publizierte sie ein Buch in Englisch über ihr eigenes Leben mit dem Titel “Vergangene Erfahrungen, gegenwärtige Lage, Hoffnung für die Zukunft“.3 Das Buch ist eine eindrückliche Mischung von erbaulich-selbstkritischer Autobiographie, von unbändiger Liebe zu Armen und Kranken, Witwen und Waisen, von Mut und Schaffenskraft einer engagierten und eigenwilligen Frau und von erstaunlicher politischer und religionsgeschichtlicher Analyse. Der Druck des Buches sollte damals helfen, Geld für ihr Waisenhaus zu sammeln, zu dem sie nach dem Krieg zurückzukehren gedachte.

Marianna Gerber mit einer Gruppe armenischer Witwen (aus: M.A.Gerber “Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future”, Pasadena 1917)

Nach mehreren Schlaganfällen starb Marianna Gerber allerdings noch im gleichen Jahr am 6. Dezember 1917. In armenischen Kreisen wurde sie von denjenigen, welche die Massaker von 1914/1915 überlebt hatten, noch lange als «Gottes Engel der Barmherzigkeit» in hohen Ehren gehalten.

In täuferisch-mennonitischen Kreisen der Schweiz scheint Marianna Gerber schon bald in Vergessenheit geraten zu sein: Ihr Tod wird in deren Zeitschrift “Zionspilger” (Nr. 4/1918 vom 27. Januar 1918) bloss in einer kurzen Notiz vermerkt und in Samuel H. Geisers Standardwerk “Die Taufgesinnten Gemeinden” von 1971 wird sie grad knapp vermerkt (573). Dies im Gegensatz zu nordamerikanischen Kirchen mit pfingstlicher Tradition, denen sie sich in ihren letzten Lebensjahren zunehmend verbunden fühlte und wo die Erinnerung an sie bis in die Gegenwart wach behalten wird.

Diese wenigen Pinselstriche vermögen Leben und Werk von Marianna Gerber nur unzureichend zu skizzieren. Aber die Quellenlage zumal in der Schweiz und Nordamerika scheint gut genug zu sein für eine umfassendere Studie über diese profilierte und eindrückliche Persönlichkeit aus täuferisch-mennonitischen Kreisen des früheren Berner Jura.

(Nachtrag: Eine ausführliche Studie über Marianna Gerber erscheint in Mennonitica Helvetica 44 (2021). Mehr dazu hier.)

Anmerkungen:

  1. Der Vorname hat in der Literatur einige Verwirrung verursacht, weil er immer wieder in unterschiedlicher Schreibweise auftaucht. Im Taufregister der Sonnenberg-Gemeinde im Archiv der Konferenz der Mennoniten der Schweiz heisst sie “Mariana” (p. 16v), im Heimatrodel der Täuferfamilien von Langnau im Staatsarchiv Bern “Marianne” (Kirchenbuch Langnau 36, p.79). Und in manchen englischen Texten wurde sie dann zu “Marie A.”
  2. Vgl. dazu Ulrich J. Gerber: Die Erweckungszeit um 1900 und ihre Auswirkungen bei den Jura-Täufergemeinden und bei der reformierten Kirchgemeinde Oberbalm, in: MH 37 (2014), 97–140, speziell 120f.
  3. Die englische Originalversion: Maria A. Gerber, Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future. Ramsey-Burnes Printing Co., Pasadena, California, 1917 wurde vor einigen Jahren ins Französische übersetzt: Pour l’Amour de l’Arménie, Verlag Yvonne Zbinden 2011, ISBN: 978-2-35682-045-7.

(Die wichtigsten Quellen zu diesem Beitrag sind über die angegebenen Links leicht zu erschliessen!)

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